Psychiatrie-Geschichte

Aus historischer Verantwortung

Sitz des Bildungswerks des Bayerischen Bezirketags ist das ehemalige Benediktinerkloster Irsee, in dem nach der Säkularisation eine höchst ambivalente Psychiatriegeschichte begann: Bereits 1832 hatte sich die Vorgängerinstitution des Bezirks Schwaben für die Errichtung einer „Kreis-Irrenanstalt Irsee“ ausgesprochen, die am 1. September 1849 für etwa achtzig Patienten in den umgestalteten Klostergebäuden eröffnet wurde (vgl. Gerald Dobler, Warum Irsee, 2014).

Psychisch Kranke sollten nicht nur verwahrt, sondern nach medizinischen Gesichtspunkten versorgt, Zwangsmaßnahmen auf das Notwendigste beschränkt werden. Arbeit wurde als Therapie verstanden, wofür die Anlage des ehemaligen Klosters mit Gärten und Werkstätten gute Möglichkeiten bot (vgl. Gerad Dobler, Theorie und Praxis der Behandlung in der psychiatrischen Anstalt Irsee zwischen 1849 und 1876, Irsee 2020).

Schon nach kurzer Zeit stieg die Zahl der Patienten auf über dreihundert an, so dass am 1. August 1876 die „Bayerische Heilanstalt für Geisteskranke in Kaufbeuren“ eröffnet wurde (vgl. Gerald Dobler, Von Irsee nach Kaufbeuren, 2013). Irsee fungierte von nun an als Zweigstelle, in der vorwiegend chronisch Kranke untergebracht waren.

Missstände in den überfüllten Krankenhäusern, die Mangeljahre nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber die Charakterisierung von unheilbaren oder angeblich „erblich belasteten“ Patienten als ökonomische „Ballastexistenzen“ und „lebensunwertes Leben“ führten zur nationalsozialistischen „Euthanasie“. So wurden Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee während des Dritten Reichs nicht nur in spezielle Tötungsanstalten deportiert (nach Grafeneck/Württemberg und Schloss Hartheim/Oberösterreich), sondern auch mit fettloser „E-Kost“, mit Tabletten und Injektionen umgebracht. Die Leichen wurden in anstaltseigenen Friedhöfen bestattet (vgl. Wiebke Janssen, Die Irseer Anstaltsgräber, 2016) bzw. in einem eigens errichteten Krematorium verbrannt.

Einer der Patienten, dessen Schicksal bereits in den Prozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Rolle spielte, war Ernst Lossa, der als vierzehnjähriger Bub im August 1944 mit zwei Spritzen Morphium-Scopolamin in Irsee ermordet wurde (vgl. Robert Domes, Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa, 2008). Insgesamt sind in der Anstalt Irsee zwischen 1933 und 1945 1.218 Menschen zu Tode gekommen bzw. ermordet worden.

Nach dem Krieg kamen die Täter mit nur geringen Haftstrafen davon (vgl. NEBEL IM AUGUST. Der Fall Ernst Lossa vor Gericht, Irsee 2018; Dietmar Schulze, „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“. Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee, 2019).

1972 wurde Kloster Irsee als Abteilung des heutigen Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren auf Grund gravierender baulicher Mängel geschlossen (vgl. Gerald Dobler, Was wird aus Irsee?, 2016; Robert Domes, Die Anstalt Irsee zwischen Kriegsende und Auflösung, 2017).

Nach der Sanierung errichtete man bereits im Eröffnungsjahr des Schwäbischen Bildungszentrums 1981 auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof ein Denkmal für die Opfer der NS-Patientenmorde. Mitte der 1990er Jahre folgte die Widmung der ehemaligen Anstalts-Prosektur zur Gedenkstätte. 2009 und 2015 wurden namentlich gekennzeichnete „Stolpersteinen“ vor der Klosterfassade gesetzt.

Initiiert wurde die Aufarbeitung der NS-Psychiatrie-Verbrechen durch den langjährigen ärztlichen Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, Prof. Dr. Michael von Cranach (vgl. Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999). Das Bildungswerk selbst publizierte erstmals 2009 in seiner Schriftenreihe IMPULSE zum Gedenken an die Opfer der Irseer Heil- und Pflegeanstalt (vgl. „… man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“). Es folgten die Veröffentlichung „Geistlicher Quellen“ zu den NS-Krankenmorden (Magdalene Heuvelmann, „Wer in einer Gottesferne lebt, ist im Stande, jeden Kranken wegzuräumen“, 2013) und des chronologischen Toten-Register der Anstalt (Magdalene Heuvelmann, Das Irseer Totenbuch, 2015).

Bereits lange zuvor standen Veranstaltungen für eine neue, Patienten-geleitete (statt professionell-oktroyierte) Psychiatrie auf dem Programm des Bildungswerks, so 1991 die Gründungsversammlung des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener und 2001 die erste Tagung des Landesverbands Bayern des Vereins „Bürgerhilfe in der Psychiatrie“ (vgl. „Berührung mit dem Leben“, Irsee 2015).

2011 tagte erstmals der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation in Kloster Irsee (vgl. www.ak-ns-euthanasie.de). Die dort verabschiedete „Irseer Stellungnahme“ zur Präimplantationsdiagnostik verweist auf die lange und bis heute nachwirkende Geschichte von Eugenik und „Euthanasie“.

Im Rahmen seiner Veranstaltungen „Qualifizierung Ehrenamtlicher“ unterstützt das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags heute bewusst Patientenfürsprecher-Tagungen, Angehörigenseminare, Treffen von Psychiatrie-Erfahrenen sowie EX-IN-Vernetzungstreffen, um die Einbeziehung von Experten aus Erfahrung in die psychiatrische Versorgung im Freistaat voranzubringen.